Knapp 40 % der Bevölkerung in Deutschland fährt täglich oder mehrmals pro Woche mit dem Fahrrad. Das kommt nicht nur der Umwelt zugute, sondern hält auch noch fit. Allerdings fühlt sich nur knapp die Hälfte der Radelnden auch wirklich sicher im Straßenverkehr und fordert deshalb eine neue Radinfrastruktur von der Politik. Das Team um Prof. Dr. Christoph Haferburg und Prof. Dr. Jürgen Oßenbrügge vom Institut für Geographie der Universität Hamburg haben innerhalb ihres von Calls for Transfer (C4T) geförderten Projekts „PraxisPerspektiven:Rad“ am Standort Hamburg untersucht, wie neu gestaltete Radverkehrsführungen angenommen werden und ob die Sicherheitsansprüche der Fahrradfahrenden erfüllt sind. Mit der Forschung konnten wichtige Ergebnisse für die Politik und die zukünftige Neuplanung von Radverkehrsführungen in Hamburg gewonnen werden.
Für das Projekt wurden insgesamt zehn verschiedene Radweggabelungen in Hamburg ausgewählt, kartographisch erfasst und als bauliches Realexperiment benutzt. Untersucht wurde, wie Radfahrende – von einem Schutz- oder Radfahrstreifen kommend – sich an der Gabelung entscheiden: entweder fahren sie auf der Fahrbahn oder auf dem Radweg weiter. Anders als bei der klassischen Verkehrsforschung, die häufig simulationsbasiert arbeitet, hat das Projektteam auf die Methode der Triangulation gesetzt (Kombination verschiedener Forschungsmethoden, um Vorteile maximal zu nutzen und Nachteile auszugleichen) und nicht nur die Navigationsentscheidung der Radelnden beobachtet, sondern auch umwelt- und radfahrbezogene sowie sozioökonomische und soziodemografische Merkmale einbezogen. Darüber hinaus wurde erfragt, wie die Sicherheit des Standorts individuell wahrgenommen und eingeschätzt wird. Hierbei wurde die Vielfalt der Radfahrenden mit unterschiedlichen Fahrradtypen und Sicherheitstypen berücksichtigt. Im Gesamtergebnis haben sich von 5000 erfassten Radfahrenden (an allen Standorten zusammengerechnet) ca. 20 % für die Fahrbahn und 80 % für den Radweg entschieden. Um herauszufinden, warum die Entscheidung so ausgefallen ist, hat das Projektteam 41 direkte Interviews durchgeführt und über 400 standortspezifische Online-Fragebögen erfasst. Es stellte sich heraus, dass die Navigationsentscheidung stark nach Standort variiert: während sich an der Osterstraße fast die Hälfte für die Fahrbahn entschieden hat, waren es am Dammtordamm nur ca. 5 %. Dadurch wird die Bedeutung der infrastrukturellen bzw. (verkehrs-) situationsabhängigen Einflussfaktoren deutlich. Auch die Geschwindigkeit spielt bei der Entscheidung eine Rolle, denn wer schneller unterwegs ist – zum Beispiel mit einem E-Bike – wählt häufiger die Fahrbahn, fühlt sich dort aber auch weniger sicher als die Nutzer:innen der Radwege.
Die Mobilitätswende in Hamburg nimmt Fahrt auf: Bis zum Jahr 2030 sollen 80 % Prozent aller Wege zu Fuß, mit dem Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Ein ambitioniertes Ziel, für das im Jahr 2016 das Bündnis für den Radverkehr (mittlerweile Bündnis für Rad- und Fußverkehr) geschlossen und umgesetzt wurde. Seitdem gibt es bereits 316 km gebaute und erneuerte Fahrradwege in Hamburg, davon entfallen alleine 53 km auf das Jahr 2022. Darüber hinaus konnten bereits 70 % der so wichtigen Velorouten mit einem hohen Standard ausgebaut werden. Mehr dazu kann im Kurzbericht des Bündnisses aus dem Jahr 2022 nachgelesen werden.
Durch diese bereits umgesetzten Innovationen in Sachen Radverkehr eignete sich die Hansestadt als idealer Untersuchungsraum für das Forschungsprojekt, mit dem wichtige Daten für die zukünftige Verkehrspolitik Hamburgs gewonnen werden konnten. Durch die Neugestaltung von schwierigen Passagen, wie vielbefahrenen Kreuzungen oder Nadelöhren, sind teilweise Radwegsituationen entstanden, die von den Nutzer:innen als nicht eindeutig empfunden werden. Bei den Verkehrsplanern und bei den Radfahrenden gehen die Meinungen zu Themen wie der Verkehrstrennung an Kreuzungen oder engen Straßenabschnitten oft auseinander. Neue Radverkehrsführungen und damit einhergehende Verkehrssituationen werden somit – auch unter Sicherheitsaspekten – unterschiedlich wahrgenommen. Die Ergebnisse des C4T-Projekts geben Aufschluss darüber, welche Erfahrungen Radfahrende mit diesen neuen und nicht eindeutigen Radverkehrsführungen machen und welche Neuerung sich bewährt hat. So können die Ergebnisse der Forschung als eine Art Rückspiegelung in die Politik fungieren. Durch das gezielte Abfragen von Motiven und der Beobachtung tatsächlicher individueller Handlungen der Fahrradfahrenden ließ sich ein besseres Verständnis über die Nutzung von Radwegen gewinnen.
Doch was bedeutet das nun konkret? Bei den zukünftigen Neuplanungen von Radverkehrsführungen – besonders im Hinblick auf die stetige Zunahme des Radverkehrs und der sich verändernden Fahrradtypen (mehr Lastenräder & E-Bikes) – muss also zwingend auf weniger theoretische, sondern mehr praktische Erfahrungen gesetzt werden. Der jeweilige Standort spielt bei der Planung eine entscheidende Rolle und sollte stets individuell berücksichtigt werden, wodurch allgemeingültige Erkenntnisse über den Bau von Fahrradwegen zweitrangig werden. Das haben die Forschungsergebnisse des Projekts sehr deutlich gemacht, die bereits in verschiedenen Vorträgen und Publikationen veröffentlicht werden konnten.
Schneller geht es in Hamburg nicht nur mit dem E-Bike, sondern auch mit der Anschubfinanzierung von Calls for Transfer. Das durch die Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke (BWFGB) ermöglichte Programm „Calls for Transfer“ fördert seit 2018 den Ideen-, Wissens- und Technologietransfer an den staatlichen Hamburger Hochschulen. Dabei werden die jeweiligen Projektanträge aller Disziplinen bis zu einem Jahr mit maximal 30.000 Euro unterstützt. Das Förderprogramm konnte bereits 134 Ideen aus den Hamburger Hochschulen den Schritt in die Realisierungsphase ermöglichen.